Trommelwirbel Ausgabe 31
Leseprobe
Julians beruflicher Werdegang
Während des letzten CHARGE-Treffens gab es einen Vortrag mit dem Thema „Kindern helfen, Entscheidungen zu treffen und sie dabei unterstützen“. In diesem Zusammenhang haben wir über den beruflichen Werdegang von Julian gesprochen. Wir sind gebeten worden, dies einmal schriftlich zu formulieren.
Dann mal los:
Julian wurde 1999 geboren und bis 2013 lief er immer unter der Diagnose, „Verdacht auf CHARGE Syndrom“. Seit 2013 haben wir die schriftliche Bestätigung der Diagnose „CHARGE Syndrom“ durch die Humangenetik der Uni Essen. Im Laufe der Zeit haben wir festgestellt, dass viele Menschen, mit denen wir zu tun hatten und haben, noch nie von dieser Krankheit gehört haben. Sie können das Krankheitsbild nicht zuordnen, da sie nicht wissen, was alles damit verbunden ist. Wir sagen dies nur, um zu zeigen, dass wir den Leuten nicht böse sind -auch wenn es uns viele Nerven gekostet hat Julian zu helfen den Weg zu gehen, den er sich vorgestellt beziehungsweise für den er sich entschieden hat.
Wichtig für seine Geschichte ist zu erwähnen, dass er gehörlos ist, eine starke Sehbehinderung hat, Probleme mit der Feinmotorik und wie wir jetzt wissen, Einschränkungen im Geschmacks-und Geruchssinn. Alles andere ist hier nicht von Belang.
Fangen wir in der letzten Phase seiner Schulzeit an. Julian hat eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Hören & Kommunikation in Essen besucht. Zum Ende seiner Schulzeit hatte er die Möglichkeit, an einigen Praktika teilzunehmen. Diese sollten ihm helfen, seinen Weg zu finden und festzustellen, wo seine Talente und Interessen liegen.
Julian hat schon immer einen Draht zu Kindern gehabt. Da er aber auf Grund der Einschränkungen schwerlich in der Betreuung von Kindern einen Platz finden konnte, hatte er entschieden, sich in der Küche in einem Kindergarten für ein Praktikum zu bewerben. Die damalige Köchin hatte Verständnis für ihn, da sie auf Grund der eigenen Situation mit einem behinderten Kind offen dafür war, Julian eine Chance zu geben. Die beiden haben sich gut verstanden und einen Weg der Kommunikation gefunden mit dem beide gut klarkamen. Zum Beispiel war Julian für das Dessert verantwortlich. Sie haben ein Dessert zusammen gemacht, dieses als Beispiel hingestellt und Julian hat dann 30 Identische gemacht. Manchmal hat die Köchin ein Bild der Speise gemacht. An anderen Tagen hat sie ihm anhand eines Bildes gezeigt, wie die Speise fertig aussehen sollte und er hat die Speise nach der Bildvorlage hergestellt. Julian hat sich sehr wohl gefühlt und damals seine Liebe zum Kochen entdeckt.
Für sein zweites Praktikum hat er sich entschieden, es als Maler/Anstreicher zu versuchen. Wir haben dem wegen der Sehbehinderung keine große Chance eingeräumt, haben aber beschlossen, ihn zu unterstützen und auch hier eine Praktikumsstelle gesucht. Wir haben uns gedacht, dass es für ihn auch hilfreich sein kann zu sehen und zu lernen, was nicht geht. Dieses Praktikum war schlimm für ihn, da er 3 Wochen fast nur fegen musste. Er hatte nicht wirklich eine Chance sich auszuprobieren.
Für sein drittes Praktikum wollte er wieder in den Kindergarten. Zu dieser Zeit konnten wir uns noch nicht vorstellen, dass Julian mal auf Dauer in einer Küche arbeiten würde. Wir haben es als wichtig angesehen, auch andere Berufe auszuprobieren und haben ihn überzeugt, etwas anders auszuwählen. Er war dann 3 Wochen in einer Firma für Garten-und Landschaftsbau. Dort hat man ihn im Gartenbau eingesetzt. Diese Arbeit hat ihn überfordert. Trotz gehörloser Kollegen wurde auf seine Bedürfnisse keinerlei Rücksicht genommen. Teilweise war er so erschöpft, dass er taumelnd nach Hause gelaufen kam.
Ein weiteres Praktikum hat er in einer Friedhofsgärtnerei absolviert. Er war einen Tag mit auf einem Friedhof, ist dort aber nicht klargekommen. Man hat ihn dann im Gewächshaus Setzlinge pflanzen lassen. Hier ging es wieder besser, da er eine Struktur hatte, selbständig arbeiten konnte und ein genaues Bild hatte von dem, wie es fertig aussehen sollte.
Nach seiner Schulzeit haben wir dank der Hilfe eines wunderbaren Sachbearbeiters beim Arbeitsamt und der Unterstützung vom Landschaftsverband Rheinland (LVR) einen Platz in einer Maßnahme zur Berufsfindung in einem Berufsförderungswerk (BFW) für Gehörlose bekommen. Die nächsten 18 Monate waren für ihn und für uns eine riesige Herausforderung. Diese Zeit allein würde ein Buch füllen und ich kann hier nur einen kleinen Abriss wiedergeben. Ich teile es mal in die drei wichtigsten Bereiche ein: Unterbringung, Reise und berufliche Entscheidung.
Unterbringung
Obwohl wir uns entschieden haben ihn zu unterstützen, war es doch eine Überwindung, ein Kind mit besonderen Bedürfnissen wie Julian für 18 Monate von zu Hause fortgehen zu lassen. Letztendlich hat sich aber alles zum Guten gewendet. Es hat ihn in seiner Selbstständigkeit einen Riesenschritt nach vorne gebracht. Er hat im Berufsförderungswerk (BFW) ein Zimmer gehabt und es war immer eine Betreuung als Ansprechpartner vor Ort da. In dieser Zeit hat er gelernt selbst einzukaufen, zu kochen, seine Wäsche zu machen und viele Dinge mehr. Karin hat extra für ihn ein Kochbuch erstellt und für alle Zutaten Bilder eingefügt, da er nicht lesen kann. Er hat selbst gekocht und beim ersten Mal einen
Plastik-Mikrowellentopf auf die Herdplatte gestellt, dann aber sehr schnell festgestellt, dass dies keine gute Idee war. Alle 14 Tage hatte er ein Wochenende zu Hause. Beim ersten Mal hat er noch seine Wäsche mitgebracht, danach wollte er es unbedingt in seiner Unterkunft selbst machen. Manchmal kamen Bilder per WhatsApp mit bunt verfärbten Speisen und der Frage: „Geht noch?“. Einmal haben wir an einem Wochenende mit ihm geputzt und lebendig gewordene Schokolade entsorgt. Heute lachen wir darüber.
Reise
Julian durfte alle 14 Tage nach Hause. Glücklicherweise war die erste Zeit eine Freundin von ihm im selben Berufsförderungswerk. Sie sind Freitagnachmittag zusammen mit der Bahn nach Hause gefahren und wir haben sie im Wechsel mit dem Auto am Sonntag zurückgebracht. Dann kam die Zeit, als Julian allein mit der Bahn fahren wollte. Diese Entscheidung mitzutragen war die schwerste Überwindung für uns -besonders für das Mutterherz.
Unglaublich, wie viele Dinge einem plötzlich im Kopf rumgehen, was alles passieren kann. Viel Kopfkino…. Zum Beispiel, dass er sich nicht verständigen kann, nicht fragen kann was los ist, wenn der Zug nicht weiterfährt. Die Sorge, dass verloren geht unterwegs… Dass andere Menschen im Zug ihm gegenüber nicht freundlich reagieren… Aber auch hier haben wir Möglichkeiten gefunden und so nach und nach haben wir unsere Ängste überwunden. Bis auf den Tag, als ein Anruf vom Taxiunternehmen kam mit der Frage, wo unser Sohn geblieben sei. Der Zug hatte auf Grund von vereisten Weichen über 2 Stunden Verspätung. Das gab eine „leicht“ erhöhte Rechnung für die Wartezeit. Dank der Bahn haben wir eine schöne neue Haarfarbe bekommen - grau steht uns gut.
Wie immer, wenn Julian an einem neuen Ort arbeiten sollte, hat Karin mit ihm die Strecke mehrmals geübt und abgefahren, damit er alles schon mal gesehen und eine gewisse Sicherheit hat. Dann haben wir für Julian eine Kette mit einer Kapsel als Anhänger besorgt.
In diese Kapsel haben wir seinen Namen und seine Anschrift untergebracht und ihm erklärt, dass er sie zeigen soll, falls ein Notfall eintreten sollte. Weiterhin haben wir nach einer Möglichkeit gesucht, sein Handy zu orten. Für die Reise haben wir ein Taxiunternehmen gefunden, welches ihn am Berufsförderungswerk abgeholt und zum Bahnhof gebracht hat. Dort hat ihn der Reiseservice der Bahn in Empfang genommen und in den richtigen Zug auf seinen reservierten Platz gesetzt. Zurück von zu Hause zum Berufsförderungswerk dann in umgekehrter Reihenfolge.
Natürlich hat dies nicht immer reibungslos funktioniert, aber es gab immer Menschen um ihn herum, die geholfen haben oder er hat einen Weg gefunden, sich selbst zu helfen. Was uns besonders in Erinnerung geblieben ist, sind zwei Erlebnisse. Einmal ist der Bahnservice nicht erschienen. Julian hat die ausgedruckte Fahrkarte genommen, ist an den Fahrkartenschalter marschiert und hat ihnen dort die Karte unter die Nase gehalten und darauf getippt, bis sie verstanden hatten, was er wollte und für Hilfe gesorgt haben. Ein anderes Mal ist der Zug einen anderen Weg gefahren und dann nicht weitergefahren. Julian konnte die Anzeigen nicht lesen oder die Durchsagen verstehen. Wir haben mit ihm geschrieben, dass er sagen soll, wo er ist. Er hat sein Handy am nächsten Bahnhof ans Fenster gehalten und ein Bild gemacht. Somit konnten wir feststellen, wo er sich befindet und dann weitere Maßnahmen ergreifen, um ihn wiederzubekommen. Eine Zeit, die uns alle viel abverlangt hat, uns alle aber gestärkt hat und neues Vertrauen in seine Fähigkeiten gegeben hat.
Berufliche Entscheidung
Während seiner Zeit im Berufsförderungswerk hatte Julian die Möglichkeit, in verschiedene Berufszweige reinzuschnuppern und sich auszuprobieren. Wir hatten sehr viele Gespräche mit Lehrern und Bereichsleitern vor Ort. In dieser Zeit hat sich herausgestellt, dass Julian im Berufsförderungswerk eigentlich nicht beschulbar ist. Julian hat vieles ausprobiert und war entweder von seinen Fähigkeiten her nicht geeignet, oder sehr unglücklich in den Bereichen, in die er gesteckt wurde.
Julian wollte zurück in die Küche. Er sagte uns, dies wäre sein Wunsch und da fühle er sich wohl. Wir haben für uns an diesem Punkt entschieden, ihn bedingungslos darin zu unterstützen. Es war uns wichtig, dass er sich wieder wohl fühlt. Dieses ständige hin und her und Neues ausprobieren war nicht gut für ihn.
Nach einigen Diskussionen und gegen den ersten Widerstand der Leitung vor Ort haben wir dann durchgesetzt, dass er eine Ausbildung in der Küche bekommt. Eine Ausbildung an seine Fähigkeiten angepasst. Wir hatten uns mehr davon versprochen und Julian fühlte sich teilweise sehr ausgenutzt. Die Arbeit fand er prima, aber wichtiger ist für ihn der zwischenmenschliche Umgang. Er fühlte sich allein und hatte kaum Kommunikation dort.
Irgendwann war auch diese Maßnahme vorbei und Julian kam wieder nach Hause. Jetzt standen wir vor dem Problem, wie es weitergehen sollte. Wieder haben wir von Seiten des Arbeitsamtes großartige Unterstützung erfahren, da das Berufsförderungswerk seiner Verantwortung dafür leider nicht nachgekommen ist. Als letztmalige Möglichkeit hat Julian eine Maßnahme über das Bildungszentrum für hörgeschädigte Menschen (bzh) Essen Bildungszentrum für Hörgeschädigte bekommen. Die Sachbearbeiterin war glücklicherweise sehr entspannt. Julian hätte dort in die Schule gehen müssen. Auf Grund seiner fehlenden Beschulbarkeit haben wir uns geeinigt, dass sie uns „nur“ bei der Suche nach einem Arbeitsplatz in der Küche helfen würde.
Über das Bildungszentrum für hörgeschädigte Menschen hatte er die Gelegenheit, ein paar Praktika bei caritativen Einrichtungen zu machen, um zu zeigen, was er kann. Den Leitern der Küchen sollte die Gelegenheit gegeben werden ihn kennenzulernen und dann zu entscheiden, ihn fest einzustellen. Leider mussten wir feststellen, dass keine dieser Einrichtungen für Julian geeignet war. Wir haben am Anfang schon mal erwähnt, dass wir den Menschen nicht böse sind. Viele können sich nicht auf die Bedürfnisse von Julian einstellen. Er ist halt nicht „nur“ gehörlos, sondern es steckt viel mehr dahinter. Man hat ihn zum Beispiel auch zum Praktikum in der Küche eingeladen und dann versucht ihn beim Zimmerservice fürs Putzen einzusetzen. Dieses haben wir sofort unterbunden.
2019 haben wir von unserem Betreuer beim Arbeitsamt den Vorschlag bekommen, dass Julian ein Praktikum in der freien Wirtschaft bei der CCO Eventgastronomie GmbH (Gesellschaft mit beschränkter Haftung) machen kann. Hier war/ist alles anders. Wir haben noch nie in der ganzen Zeit, in er Julian arbeiten geht, Menschen kennengelernt, die so sozial eingestellt sind. Aber der Reihe nach.
Schon das Bewerbungsgespräch für das Praktikum in Begleitung einer Dame vom Arbeitsamt war sehr interessant. Wir denken, sie war etwas unsicher, weil sie für Julian in der freien Wirtschaft etwas vermitteln sollte. Sie hat erstmal aufgezählt, was Julian alles nicht kann, bis der Küchenchef sie unterbrochen hat und vorgeschlagen hat, es erst einmal auszuprobieren und Julian eine Chance zu geben.
Die nächsten 2 Wochen haben wir vom Küchenchef über WhatsApp öfter Bilder oder kleine Videos bekommen. Immer mit einem Smiley oder kurzen Texten wie „geht doch“ oder „es klappt doch gut“. Kurze Zeit später hat er die Arbeitskleidung der Firma bekommen, damit er ein Zugehörigkeitsgefühl zum Team hat. Sie haben ihn aufgenommen, als wenn er schon immer dazu gehören würde. Sie waren begeistert von Julian und sagten, dass man richtig merkt, wie motiviert und begeistert er ist. Unter diesen Voraussetzungen würde er jede Chance bekommen. Julian war zuständig für Dessert und die Salatbar. Dies ist seinen Fähigkeiten am nächsten gekommen und es war sichergestellt, dass die Speisen alle gleich angerichtet waren. Viele andere Aufgaben hat er gewissenhaft erledigt. Er war nicht einmal zu spät bei der Arbeit oder hatte keine Lust dort hinzugehen. Er ist in dieser Arbeit und in diesem Umfeld ganz aufgegangen.
Wir standen von Anfang an mit dem Küchenchef in engen Kontakt. Wenn mal ein Problem in der Verständigung aufgetreten ist, haben wir darüber gesprochen und es Julian anschließend zu Hause erklärt oder direkt per Videoanruf geklärt. Der maßgebliche Punkt, für den wir sehr dankbar sind, ist die Bereitschaft Julian zu akzeptieren, wie er ist und ihm das Gefühl zu vermitteln, dass er gebraucht wird. Ihn dabei zu fordern und zu fördern, ohne ihn zu überfordern. Julian hat weitergelernt, die anderen Mitarbeiter haben von ihm profitiert und arbeiten gerne mit ihm zusammen. Die Dame vom Arbeitsamt hat gesehen, wie toll eine Integration laufen kann und hat ihrerseits alles in die Wege geleitet, um Julian zu unterstützen.
Nach einiger Zeit hatte der Chef von CCO Eventgastronomie GmbH (Gesellschaft mit beschränkter Haftung) eine Überraschung für uns: einen richtigen Arbeitsvertrag -in Absprache mit dem Arbeitsamt. Zunächst auf 3 Monate befristet und dann unbefristet. Julian und wir haben uns riesig darüber gefreut. Er war total begeistert, dass er weiterhin dort arbeiten durfte. Leider kam dann Corona, so dass der Vertrag nicht unbefristet ausgestellt werden konnte.
Trotz der vielen Einschränkungen, Auflagen und Einbußen in der Gastronomie, hat der Chef von CCO Eventgastronomie GmbH (Gesellschaft mit beschränkter Haftung) immer einen Weg gefunden Julian in irgendeiner Weise weiter zu beschäftigen. Sie wollten nicht auf ihn verzichten, denn er gehört zur Familie. Alle geben sich Mühe, mit ihm zu kommunizieren und sie haben während und auch nach der Arbeit Spaß zusammen. Sie stehen für ihn ein, was sich auch bei anderen Gelegenheiten gezeigt hat.
Hier ein kleines Beispiel. Julian hatte an einem Tag ziemlich am Anfang Ware angenommen und wurde von dem Lieferanten verbal angegriffen und beschimpft. Julian hatte seiner Meinung nach nicht richtig zugehört und nicht schnell genug reagiert. Sofort sind Julians Kollegen ihm zur Seite gesprungen und haben sich für ihn eingesetzt. Keiner der Kollegen kann die Gebärdensprache und Julian kann nur bedingt sprechen, trotzdem haben sie einen Weg gefunden, gut miteinander auszukommen und sich zu verstehen, auch wenn es das eine oder andere Missverständnis gibt. Darüber lachen wir dann später zusammen.
Glücklicherweise hat sich die Situation mit Corona gebessert und für die Gastronomie geht es wieder aufwärts. Seit Oktober ist Julian wieder aus der geringfügigen Beschäftigung raus und hat wieder einen vollwertigen Arbeitsvertrag. Wir sind glücklich und dankbar darüber!